| 03. Januar 2018
Eine Theaterproduktion von Pierre Massaux / Théâtre du Sacré
2016 kam Pierre Massaux HYPERION - DER WEG INS LICHT in Zürich zur Uraufführung. Er erarbeitete diesen großartigen Text mit jungen Migranten aus aller Welt, die gerade 10 Monate in der Schweiz waren und mit Lernen des Hölderlin Textes auch Deutsch lernten. Pierre Massaux THÉATRE DU SACRÉ widmet sich immer gesellschaftspolitisch und spirituell relevanten Themen und arbeitet schon seit über 10 Jahren viel mit jungen Menschen mit Migrationshintergrund und Laien. Da ich "zufällig" in der Premiere saß und wir im Anschluss ins Gespräch kamen, bat er mich, ob ich ein Portrait dieses Abends auf französisch verfassen könne. Als ich begann zu schreiben merkte ich, dass ich über Hölderlin auf deutsch schreiben muss, auch in der Sprache schreiben muss, in der ich den Abend erfahren und empfunden hatte - und übersetzte ihn dann selbst ins französische für die Zeitschrift GOLIAS, in der er im Frühjahr 2017 erschien. Hier ist er das erste mal in der ursprünglichen deutschen Fassung zu lesen...
Es ist ein Stück gelebte Utopie, zu sehen, dass man durch das Eintauchen in die Dichtung einer bestimmten und unverwechselbaren Kulturlandschaft, den Ozean des Seins berührt
PROLOG
Der Theater-Abend beginnt mit einer wundersamen Harmonie: Ein Tibeter spricht Hölderlin auf Deutsch.
Der Singsang seiner feinen Stimme und Betonung macht aus den mächtigen Worten des Anfangs einen stimmigen Fluss, der einem den tiefen Sinn transmental, im Grunde transzendent einatmen lässt, ohne dass es notwendig sei, Wort für Wort folgen zu können.
Es übernimmt Olà Ahmed, eine junge Syrerin aus Aleppo
und dann hören-sehen wir Freselam aus
Eriträa die Worte sagen:
„Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen,
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen
Jahr lang ins Ungewisse hinab."
– Und das aus dem Mund eines Menschen, der vor kurzem noch unter Einsatz seines Lebens den Weg aus Eriträa bis in die Schweiz hinterlegte und nun vor uns steht, erst 10 Monate nach seiner Einreise in die Eidgenossenschaft und quasi mit diesem Text, den er gerade spricht, die deutsche Sprache erlernt – und gleichzeitig, so zeigt dieser Abend auf beeindruckende Weise, seine Würde als Mensch, als Individuum wieder feiern darf und der Zuschauer eingeladen wird, die lineare Wahrnehmungsvermögen zugunsten eines multidimensionalen Erfahren loszulassen.
„Ich hab es EINMAL gesehn, das Einzige....die Vollendung, ...die wir hinausschieben bis ans Ende der Zeit, die hab ich gegenwärtig gefühlt. Wißt ihr seinen Namen ? den Namen, des, das EINS ist und ALLES ? Sein Name ist Schönheit"
Das ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn man in „HYPERION, Der Weg ins Licht" sitzt und diesen jungen Menschen aus aller Welt zuschaut, wie sie diese heiligen Worte der deutschen Kultur zelebrieren, dabei das Leben feiern und damit ein Ritual des Übergangs schaffen, der ihnen mit Sicherheit ungeahnte Räume eröffnet, mit der neuen Lebens-Situation umzugehen.
Es ist ein Stück gelebte Utopie, zu sehen, dass man durch das Eintauchen in die Dichtung einer bestimmten und unverwechselbaren Kulturlandschaft den Ozean des Seins berührt, quasi ins morphogenetische Feld abtaucht, das allen Kulturen und Mentalitäten, allen Religionen und Philosophien gemein ist und als Wurzel zu Grunde liegt: Eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen und den Kosmos.
Pierre Massaux hätte keinen besseren Text wählen können, um dieses ganzheitliche und heilsame Kunst-Ritual mit Migranten zu begehen. Es ist ein Stück All umfassendes Bewusstsein codiert in diesen Worten, die Friedrich Hölderlin zu Papier brachte und die von Ewigkeit zu Ewigkeit in unserem Erbe schwingen.
Und obschon Pierre Massaux schon seit langen diese Art integrative Projekte verwirklicht, möchte man meinen, dies sei angesichts der globalen gesellschaftlichen, politischen und menschlichen Katastrophen, die uns derzeit mehr denn je umgeben, angesichts des absurden Kriegstreibens und Angstmachens mit einer neuen Form von „Terreur", wie die Welt sie seit 2001 vorgeführt bekommt, eine Art heilsamer Höhepunkt, wirklich im wörtlichsten Sinne ein Theater du sacré, wie er seine Werkstatt heißt. So ein Projekt straft auch all diejenigen Lügen, die mit diesen ver-rückenden Kriegs-Inszenierungen Chaos stiften wollen und daran verdienen, dass sich alle die Köpfe einschlagen sollen. Hier entsteht ein Ort des Friedens und der Freiheit, losgelöst von Zeit und Raum.
In dem diese Menschen den schmalen Grad des Schönen Wahren Guten gehen, beleben sie ihre eigene Kultur, begehen sie in Würde den Akt des Mensch Seins und sind somit nicht angepasst oder vermischt mit etwas fremden, sondern selbst-bewusst verbunden mit dem Allgegenwärtigen und Individuellen.
Die Lösung der Verkettungen im Großen liegen auch im Kleinen, im persönlichen und der individuellen Haltung zum Ganzen. Und das kann man kaum besser sichtbar machen, als mit einem derartigen Projekt.
Diese Menschen, die erst seit wenigen Monaten in der Schweiz sind und quasi beim Deutsch-Lernen gleichzeitig die höchster Form der Kunst in dieser Sprache sich einverleiben, kommen zu dieser Hymne an das Licht, an die Liebe zusammen – und vollziehen diesen Friedensakt vor den Augen der Zuschauer, vollkommen angstfrei, sicher, ruhig, bewusst und beseelt.
All diese jungen Menschen, die Pierre Massaux in der Autonomen Schule in Zürich kennen gelernt hat und mit denen er 6 Monate gelebt, gesprochen, gesucht, gerungen und gesungen hat, tragen ihre eigenen traditionellen Gewänder. Auch das ein besonderes Zeichen für eine Welt der Begegnung und nicht der Vermischung oder Vernichtung von Kultur.
„Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter EINS ..."
Wenn Tenzin Jordan aus Tibet, dessen Bewegungen erahnen lassen, wie verwandt dieser Text, den Ritualen seiner eigenen Kultur ist, sagt: „Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit. Ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist...." erschaudert es einen, weil man feststellen muss, dass der neoliberale Turbokapitalismus wie auch der alles gleichmachende Kommunismus, der sich mit dem Kapitalismus besser vereint als man es vermuten mag, diese Form der Religio – Rückverbindung mit dem Kosmos, mit der Ganzheit, dessen Teil wir sind, hat verschwinden lassen und ständig versucht, ihn von den Menschen abzuspalten. In Form von falsch verstandenen Wissenschaften und in Form von vereinsamenden Konsum und Gier.
Und ein großer Konflikt in dieser heutigen Welt besteht darin, dass sich hier Fronten aufbäumen, die sowohl auf der Seite der Befürworter wie der Gegener dieser globalisierten Neuen Welt ins fundamentalistische und extremistische gehen und somit die Wahrheiten zu einseitigen Halbwahrheiten verkommen lassen, um sie schließlich als Machtmittel zu missbrauchen.
Olà aus Aleppo verzaubert mit ihrer klaren und sanftmütigen Bühnen-Präsenz und ihrer Freude am Spiel, dank Hölderlin sind alle Sätze, die diese Menschen in den Raum stellen, elementar:
„...und, ehe der Mensch noch gehen gelernt hat, muss er knien, eh er sprechen gelernt hat, muß er beten; ehe sein Herze ein Gleichgewicht hat, muss es sich neigen...."
Diese Worte wirken mytho-logisch und man ist eingeladen, wie bei anderen „heiligen" Schriften auch, diese auch im übertragenen Sinn zu lesen. Nicht nur Wort wörtlich, sondern symbolisch und mit Liebe. Die Ganzheit, die Hölderlin formuliert ist Einheit in Liebe und Liebe in Einheit. Oder philosophisch ausgedrückt: Nondualität und Individualität. Eins sein und Verschieden. Dies ist eine Wahrheit, die in allen Kulturen ihre Bilder hat. Auch das stellt Pierre Massaux fest, wenn er an die innigen Gespräche rund um diese Art Projekte denkt: in diesen Wesentlichen Aspekten sind sich fast immer alle einig, und auf der Basis dieses Verständnisses, begegnet man den Unterschieden mit Respekt und Inter-esse.
Es wird auch nochmal brisant und politisch in diesem Abend. Hyperion zieht begeistert und verblendet in den Kampf und zerbricht je an dieser Hybris. Wenn man diese Worte gesprochen von Flüchtlingen hört, die durch diese Kämpfe haben gehen müssen, die aus Profit – und Machtgier weniger Despoten und Kartellen entstehen, ist wieder und wieder klar, dass kein Kampf jemals zu Frieden führt. Gewalt erzeugt immer nur Gewalt. Diesen Bann zu durchbrechen vermag nur die Liebe: Hier ist sie !
Wenn Malek Awssi, ein syrischer Kurde mit imposanter Erscheinung, sich non chalent vor Thomas Fuhrer, dem einzigen professionellen Schauspieler des Abends, der weite Strecken des Hyperion Parts spricht, aufbaut und mit vollkommen authentischen Pathos und überwältigender Sanftmut „Diotima! Wann sehn wir uns wieder ? Ich würde Jahrtausende lang die Sterne durchwandern, in alle Formen mich kleiden, in alle Sprachen des Lebens, um Dir EINMAL wieder zu begegen..." sagt, werden einem die Knie weich. Dabei spürt man, dass Malek sich eigentlich am liebsten unsichtbar machen würde, seine Schüchternheit verhindert aber seine (innere) Größe im direkten und übertragenen Sinne nicht. Selbst ein eingefleischter Hölderlin Fundamentalist, wenn es denn so etwas geben sollte, würde in diesem Augenblick zerfließen. Malek darf denn auch den berühmten Satz sprechen: „So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden..." und Olà: „Wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, zu solchem Volke kommt..." Es ist schon bemerkenswert, was diese klare und luzide Setzung von Pierre Massaux für vielschichtige Assoziations-Kaskaden auslöst.
Diese Texte, die Berge in Bewegung setzen, schaffen für die Spieler wie das Publikum einen neuen Raum der Begegnung.
Wie Pierre Massaux berichtet, begleiteten die Proben intensive Gespräche. Der Frieden wird nicht herbeigesprochen, sondern gelebt, ohne dass er als solcher etikettiert wird. Das ist groß. Nachdem was alle unter diesen jungen Menschen erfahren mussten, bevor sie in der Schweiz zwischenzeitlich in Sicherheit sind, ist es logisch, dass sie nicht naive Vorstellungen haben von Frieden. Aber wirklichen Frieden leben, ist ihnen in dieser Arbeit gelungen. Durch diese Zeremonie der Sprache aus den unterschiedlichsten kulturellen Perspektiven wird die Ursache von Gewalt selbst aufgelöst und umgewandelt in eine transnationale und sprachübergreifende Schönheit.
Diese Texte, die Berge in Bewegung setzen, schaffen für die Spieler wie das Publikum einen neuen Raum der Begegnung.
Dieser Vorgang erzeugt ein Strahlen in den Beteiligten, das sie mit einem quasi göttlichen Glanz erfüllt und auch wieder ihre eigene Haltung zum Lebendigen erscheinen lässt. Diese sich Hinwenden in eine für sie fremde Kunstsprache, ermöglicht ihnen ihre eigene Würde zu leben. Das ist Integration – nicht durch Anpassung, sondern durch Stärkung des eigenen Selbst-Bewusstseins.
Samuel Texila aus Eriträa strömt eine klare erhabene und leichtfüssige Freude aus. Oran Akdag, ein rothaariger türkischer Kurde eine heitere Gelassenheit der menschlichen Souveränität. Alle Beteiligten sind augenscheinlich vollkommen bei sich.
Olà, die unter Lebensgefahr aus Aleppo floh, wo sie alleine ohne ihre Familie, die bereits in die Türkei immigriert war, lebte und studierte, strahlt über beide Ohren. Sie spricht die Hölderlin Texte mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und in einem nahezu perfekten Deutsch, man spürt, dass der Theater-Virus sie erfasst hat, während der Proben bat sie Pierre Massaux immer weiter um Text und man sieht in ihren wie den Augen der anderen Spielenden den wissenden Blick um die Dimension der Inhalte. Und: Hier sind sie in Sicherheit, die Kunst umhüllt sie wie eine zweite Haut und das wäre für unsere Gesellschaft auch ein Weg aus der materialistischen Falle: Läuterung, Heilung und Spirituelle Einkehr durch Schöngeistiges, das wieder mehr Raum bekommt in den Tempeln der Kunst.
Dieses Licht kommt von etwas anderem als der Materie. In der Materie haben sie Angst und Schrecken, Gewalt und Zerstörung erlebt, gerade noch kurz vor der Zeit, in der sie über die Autonome Schule Zürich zu diesem Projekt kamen. Hölderlin holt das Licht, das sie in sich trugen wieder zu Tage.
Auf den zweiten Blick erkennt man auch den Humus Pierre Massuax' : Die Musik. Als selbst Theaterschaffende fragte ich mich, wie er mit den jungen Menschen gearbeitet hat: Er hat mit Ihnen als Musiker gearbeitet. Das ist ein anderer Standpunkt, als der der Regie.
Das Theater du sacré ist auch eine Rückführung des Theaters in einen archaisch heiligen, also heilenden Raum. Diese Art der Arbeit ist auch mit professionellen Schauspielern wundervoll zu vollziehen, aber viel schwerer. Unsere Theaterkultur hat sich von dem Theater der Vorgänge hin zum Theater der Zustände entwickelt und gebiert im Zeitalter der Selbstdarstellung nur noch Exhibitionisten der Konsumkritik, die klammheimlich die Gewalt reproduzieren, in dem sie versuchen, diese bloßzustellen oder oft unbewusste Adepten dieser neuen Welt Ordnung. Beides nimmt dem Theater die Poesie und die Transzendenz und lässt es in technischer Perfektion verdumpfen und verrohen.
Die Präsenz des Friedens und die Heilung durch die Kunst, ohne etwas breit zu treten erfolgt vor unseren Augen. Das ist die gelebte Utopie: durch Schönheit und Kunst entsteht ein friede-voller Raum. Hier findet eine Metamorphose statt, elementar und unbeschwert.
„Nah ist und schwer zu fassen der Gott
wo aber Gefahrt ist , wächst das Rettende auch."
MES ANGES
Gesamte Projekt umfasste 6 Monate, davon vier mit dem gleichen Team, die auch bis zur Aufführung bleiben. Was es für Mut erfordert so im Rampenlicht zu stehen, ohne einer Sprache ganz mächtig zu sein, das kann man nur ahnen, man versetze sich hinein.
Dann noch eine präzise Synchronisation von Haltung, Bewegung und Sprache zu bekommen, ist noch ein weiteres. Die Mitwirkenden verströmen am Abend der Premiere eine Ruhe und Gelassenheit, sie spielen für das Höhere, für ihre Freiheit, sie zelebrieren die Freiheit.
Das ist eine Situation, die selten ist auf dem Theater. Hier bekommt das Theater wieder seinen transzendenten Aspekt zurück und bleibt gleichzeitig Kunst-Stück.
Solche Arbeiten sind kulturelle Schätze, sie weisen den Weg, wie zusammen Leben funktionieren kann. Es kommt auch auf die kleinen Dinge an.
„combattre les tenebres pas par l'épée mais en allumant une bougie."
EPILOG
Als Deutsch-französische Künstlerin liegt es mir am Herzen speziell das wirkliche Europa der kulturellen Begegnungen zu untersuchen und zu unterstützen. In der Arbeitsweise von Pierre Massaux entdecke ich eine Haltung, die mir für dieses Unterfangen elementar erscheint: Den höchsten Punkt der Sensibilität (wie ihn Hans-Peter Dürr nennt) mit Liebe zu beäugen und zu behandeln, die Gemeinsamkeiten erkennen, sich für die Unterschiede interessieren und respektvoll, friedfertig und in Poesie zu Ko-existieren.
In Dankbarkeit, darüber die Möglichkeit bekommen zu haben, dieser sinnreichen und philantropischen Arbeit von Pierre Massaux eine Stimme geben zu dürfen, hoffe ich, dass sie weiterleben wird.
Mögen viele seinem Beispiel folgen und das MENSCH SEIN (être humain), also das EINS und VERSCHIEDEN sein ZUGLEICH mit dem Kosmos wieder ins Zentrum des Kunst-schaffens zu rücken. Das ist Ganzheit leben.
Isabelle Krötsch, 2017